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Svenja - wir sind in Lebensgefahr! Bist du mit dem Auto da?

Gestern habe ich das erste Mal mit meinem Opa seinen Fluchtrollator gepackt.
Er ist fortgeschritten dement und paranoid. Bei meinem Eintreffen sagte er direkt: Svenja, du bist es! Wir sind in Lebensgefahr. Wenn du weißt wo die nächste Polizeistelle ist können wir es mit deinem Auto vielleicht bis dorthin schaffen ohne Kugeln im Rücken!

Durchatmen. Zustimmen. Talking down. Iss erst mal deinen Pflaumenkuchen Opa. Er ist 97.
Er isst ihn und trinkt Kaffee und bereitet seine Flucht vor. Da ich die einzige in der Familie bin die sein 'Spiel' mitspielt wirkt er überrascht und will seine Chance nutzen. Wir packen in Stille (denn sein Zimmer wird ja abgehört) zwei Jacken, eine Unterhose, einen Socken und zwei Hüte in den Rollator. Und dann gehen wir. Ich sage ihm bei jeder vollenden Runde um das Heim dass mein Auto auf der anderen Seite steht und wir noch ein wenig gehen müssen. Aber in Ruhe. Wir sind ja außerhalb des Heims. Er möchte sich beeilen, damit wir nicht entdeckt werden. Sonst ist er verloren.
Beim Teich auf der 2. Runde hält er an und zeigt mir die Fische und die Schildkröte, die nicht zu sehen sind. Er erzählt wie gern er in seine Heimat möchte. Und ich sage ihm, dass wir genau das gerade in die Wege leiten - was die Wahrheit ist. Er möchte in den Kreis Lippe, und wir kümmern uns um einen Platz für ihn. Nur geht das nicht von heut auf morgen.
Der Blick meines Opas hellt sich auf und er ist so froh, das wusste er ja gar nicht dass wir das tun. Ja, sage ich, und unser Plan ist doch viel besser als seiner. Und wenn wir jetzt zusammen weglaufen ist alles kaputt. Das findet er auch.
Er hatte seit über einer Woche keine Bewegung draußen mehr gehabt, und als wir wieder in seinem Zimmer sind erzählt er von seiner Jugend und vom Krieg. Wie er einmal in einer Stunde sechs Kühe gemolken hat. Wie er vor Stalingrad in einer Grube hockte, austreten ging und seine Grube in dem Moment bombadiert wurde. Wie er sich in Russland Bratkartoffeln auf einem leerstehenden Bauernhof machen wollte weil die Kartoffeln einfach da waren, der Rauch die Russen anlockte und sie die Hauswand wegsprengten. Aber er wollte doch so gern mal wieder etwas Ordentliches Essen.
Oder wie er am Tag vor der Kapitulation wieder zu Hause ankam und nur für eine Flasche Schnaps 22 KM zu Fuß joggte - an den Alliierten geduckt vorbei.
Wir Strohmeiers, wir haben immer Glück im Unglück.
Seine Augen strahlen dabei, wir lachen herzlich und laut. Das dürfen sie abhören in seinem Zimmer.
Ich verspreche ihm, dass Mittwoch sein Sohn vorbeikommt und ihm Broschüren mitbringt aus dem neuen Pflegeheim. Das ist die Wahrheit. Ich muss auch versprechen, dass er die wieder mitnimmt dann denn wenn man rausfindet dass er gehen will dann wird 'der Verein' ihm wieder Stromstöße verpassen, auf seiner Decke ist ja auch ein Zettel angebracht - mit ihm darf alles gemacht werden.

 

Nach 3 Stunden gehe ich und verlasse mit einem dicken Kuss auf die Wange den Mann, der 72 Jahre verheiratet ist mit meiner Oma, die ihn nicht mehr ertragen kann. Auch meine Mutter weiß nicht wie sie mit ihm umgehen soll. Sie kann das Spiel irgendwie nicht mitspielen.
Er hat uns mit seinem Leben alles ermöglicht, Abitur, Führerscheine, Studium, Eigenkapital fürs Haus. Für sich selbst hat er sein Geld nie verwendet.
Und nun holt ihn sein Kriegstrauma wieder ein.
Gott.
Was tun wir Menschen uns an.
Und was tut die Demenz uns an - sie lässt nichts mehr übrig von den Menschen die wir lieben.
Das hat er nicht verdient.
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Ich freu mich auf dich, du Herzensmensch!

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Kommentare: 1
  • #1

    Iris (Montag, 22 März 2021 13:36)

    wunderbar! Wie berührend und mutig!

Das bin ich

 

Hey! Ich bin Svenja, 31 Jahre alt, Lehrerin, Coachin und Mentorin und survivor einer sehr seltenen Autoimmunerkrankung, genannt Evan´s Syndrom. Das ist nur eine Teildiagnose, und bis das Ganze sich irgendwann vielleicht geklärt hat (Ärzte zucken mit Vorliebe ihre Schultern wenn es um die verschiedenen Diagnosen geht) stirbt mein Körper immer mal an multiplem Organversagen. 

Mit meinen Tieren lebe ich auf meinem Hof zwischen Hannover und Bremen und freu mich, meinen Gedanken hier Platz zu geben.